Festrede: Tag der Deutschen Einheit


Festrede des Oberbürgermeisters Silvio Witt anlässlich des Tages der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2022 in der Konzertkirche Neubrandenburg

Sehr geehrte Abgeordnete des Landtages, sehr geehrter Herr Vize-Kreistagspräsident, sehr geehrter Herr Landrat, sehr geehrter Herr Stadtpräsident, ein herzliches Willkommen den Vertretern der Bundeswehr, Oberst Schmidt sowie Oberfeldarzt Dr. Wever, und dem Inspekteur der Polizei Nils Hoffmann-Ritterbusch sowie Polizeipräsident Thomas Dabel, ebenso herzlich begrüße ich die Ehrenbürgerinnen und Ehrenbürger der Stadt Neubrandenburg und die ehemalige Stadtpräsidentinnen Dolores Brunzendorf und Irina Parlow sowie meinen Vorgänger im Amt des Oberbürgermeisters Gerd zu Jeddeloh, liebe Musikerinnen und Musiker, liebe Neubrandenburgerinnen und Neubrandenburger, meine sehr verehrten Damen und Herren, traditionell begehen wir heute den Tag der Deutschen Einheit. Traditionen sind etwas Schönes. Können aber auch dazu führen, dass man Dinge und Sachverhalte als Selbstverständlichkeit hinnimmt. Doch möchte man Traditionen bewahren, muss man dafür etwas tun, denn es gibt wenige Dinge im Leben, die selbstverständlich sind. Daher muss eine Gemeinschaft oder eine Gesellschaft vor allem immer wieder neu Vereinbarungen treffen. Ich habe das Gefühl, dass unsere Gesellschaft sich gerade in einem solchen Orientierungsprozess befindet. Dies ist im Grunde gut, wenn dies unter demokratischen Vorzeichen passiert. Daher stelle ich am Anfang meiner Rede die Frage: Wie einig sind sich die Deutschen an ihrem Tag der Deutschen Einheit im Jahr 2022?

Erlauben Sie mir, dafür eine kleine Reise zu unternehmen.

Im Jahr 2019 hatte ich die Ehre, an einem Austauschprogramm teilzunehmen. Unter dem Titel „Kleine Städte in einer globalisierten Welt“ ging es in die USA. Genauer genommen nach Washington D.C., Idaho, Maine und New Hampshire. Als die erste große Bewunderung, die man als Neuankömmling in einem fremden Land stets aufzeigt, verschwunden war, lernte ich Vieles kennen, was aus der fernen deutschen Perspektive nahezu unbekannt ist. Zum Beispiel wie ungleich die jeweiligen Bundesstaaten der USA sind. Während es in Massachusetts so etwas wie eine soziale Absicherung gibt, ist diese in New Hampshire nahezu unvorstellbar. Das Staatsmotto dort lautet: „Live free or die“ – also „Sei frei oder sterbe“. Schon allein das wäre in Deutschland unvorstellbar. Wir sind ja in Mecklenburg-Vorpommern „Das Land zum Leben.“

Zurück in die USA. Ein Dialog ist mir dort auch in Erinnerung. Eine Opernsängerin war begeistert davon zu hören, dass wir in Neubrandenburg eine Theater- und Orchester GmbH haben. Als ich ihr erzählte, dass das Land, der Landkreis und zwei Städte diese mit Steuergeldern finanzieren, schaute mich ihr Ehemann entgeistert an und sagte spontan: „Ihr habt immer noch Kommunismus da drüben, oder?“. Ich grüble immer noch, ob er dies als Kompliment gemeint hat. Es zeigt jedoch ein weiteres Mal, wie anders die Welt diesseits und jenseits des Atlantiks ist.

Drei Mal wurde ich während meiner Reise zu einem Abendessen im Familienkreis eingeladen. In New Hampshire geschah dies in einer typischen amerikanischen Wohnsiedlung, wie man sie aus dem Fernsehen kennt. Der Gastgeber hatte Freunde eingeladen und versucht, diese Runde möglichst deutsch zu gestalten. Amerikaner lieben es, wenn Dinge irgendwie deutsch sind. So war jedenfalls mein Gefühl. Deutsche Wurzeln, ein deutscher Schäferhund oder zumindest ein deutsches Auto. Unser Gastgeber lud auch Carola ein. Carolas Eltern stammen aus Deutschland und so sprach sie nicht nur sehr gut Deutsch, sondern brachte als Nachtisch auch Zitronencreme mit. Wir tauschten uns zu ihrer Familiengeschichte aus und verabschiedeten uns am Ende des Abends höflich. Sie gab mir ihre Adresse und für mich war eigentlich klar, dass wir uns nie wieder sehen.

Zurück in Deutschland hielt ich den Zettel mit ihrer Anschrift in den Händen und schrieb ihr einen kurzen Brief und packte eine Infobroschüre von Neubrandenburg mit in den Umschlag. Einige Wochen später erhielt ich eine Antwort. Carola bedankte sich und erzählte von ihren Erinnerungen an unsere Stadt vor rund 80 Jahren. Sie ist die Tochter des berühmten Kieferchirurgen Karl Schuchardt und hat Neubrandenburg als Kind besucht. An das Franziskanerkloster und die Marienkirche kann sie sich gut erinnern.

Über die Monate entstand so etwas wie eine Brieffreundschaft zwischen der mittlerweile 91-Jährigen Carola und mir. Wir schrieben uns über die Trump-Zeit Amerikas, über die Pandemie und deren Auswirkungen und die Wahl von Joe Biden. Sie berichtete mir, dass sie in ihrem kleinen Wohnort Sunapee sehr viel ehrenamtlich unterwegs ist und hofft, dass wenn sie mal nicht mehr so fit ist, dass ihr ebenso geholfen wird.

Mir hilft dieser Austausch mit Carola sehr. Ich erfahre so viel vom Alltag in einem anderen Land, wie ich es wohl kaum auf anderem Wege erfahren könnte. Zudem schaut Carola mit großer Wertschätzung auf unser Land. In ihrem Herzen, so sagt sie, ist sie im Grunde genommen in zwei Ländern zu Hause – den USA und Deutschland.

Im Frühjahr überraschte mich Carola mit der Nachricht, dass sie ein letztes Mal nach Deutschland reisen und dabei Neubrandenburg besuchen möchte. Mit der Queen Mary sollte es von New York nach Hamburg gehen und einige Wochen später dann nach Neubrandenburg. Die Reise hatte sie gut geplant: „Sehr gerne würde ich nach so vielen Jahren nochmal Neubrandenburg besuchen. Es könnte toll sein, Dich wieder zu sehen, dieses Mal in Deiner Stadt und nicht in New Hampshire. Die kluge deutsche Regierung hat die 9-Euro-Karte allen zur Verfügung gestellt. Ich fahre mit einer schon diese letzte Woche hier in Hamburg herum. Busse und Bahnen sind voll, wir müssen Masken tragen und etliche Straßen sind leerer. So eine gute, gescheite Idee.“ So sieht es die 91-Jährige Carola Gouse. In Deutschland wurde die Idee häufig eher von der infrastrukturellen Machbarkeit her betrachtet und kritisiert. Ich fand es schön zu lesen, dass jemand von einer „gescheiten Idee“ spricht. Derartige wertschätzende Vokabeln sind im heutigen politischen Umgang so selten geworden.

Und zugegeben, unsere Bahnverbindung nach Hamburg ist nicht gut. Aber aus der Sicht einer Amerikanerin klingt dies wie folgt: „Ich habe mir schon die Reiseverbindung von Hamburg über Bützow nach Neubrandenburg ausdrucken lassen. Mit der Regionalbahn dauert die Fahrt nicht sehr lange, in etwa 4,5 Stunden würde ich in Neubrandenburg ankommen. In den USA kann man sich so etwas überhaupt nicht vorstellen. Wir kommen ja nur mit den Autos irgendwo hin“.

Im Juli war es dann soweit und Carola und ich haben die Straßen von Neubrandenburg unsicher gemacht. Denn Carola wusste genau, was sie sehen wollte. Sie verlängerte ihren Aufenthalt um einen Tag und erkundete dann zu Fuß noch einmal allein die Stadt. Im August hat sie mir in einem Brief ihre Eindrücke von unserer Stadt beschrieben, die ich Ihnen hier nicht vorenthalten möchte.

„Die geschenkte Orgel ist ein Kunstwerk. Nicht nur für die Ohren. Sondern auch mit den vorsichtig arrangierten Pfeifen, die ein schönes, komplexes Bild ergeben. Ich bin auch auf dem Wall spaziert, um ein Foto von dem grünen Fachwerkhaus zu machen, welches einen Kontrast zu den anderen weißen Häusern zeigt.

Das andere, noch wichtigere Thema habe ich erst am Freitag verstanden. Wir haben nämlich über die großen Regenbogenfahnen nicht gesprochen. Von der Bushaltestelle in der Nähe der Hochschule fielen sie mir zum ersten Mal auf. Als ich dann mit dem Bus zum Bahnhof gefahren bin, bemerkte ich die bunte Fahne auch vor anderen Gebäuden. In der ersten Ringstraße steht auch ein bescheidenes, aber bemerkenswertes Denkmal an die Frauen, die verfolgt und getötet wurden. Es ist mir klar geworden, dass Du Dich bemühst, dass alle Menschen jetzt an Gerechtigkeit für jeden Menschen denken müssen, nicht nur für diejenigen, welche an die üblichen sozialen Normen gewöhnt sind.“

Diese Zeilen haben mich sehr berührt. Es braucht dieser Tage wohl die Augen und Worte einer 91-Jährigen, deren Familie Deutschland zur Nazi-Zeit verlassen musste, um zu erkennen, dass Symbole für eine offene und tolerante Gesellschaft nicht zum Selbstzweck gezeigt werden, sondern um aus der Geschichte zu lernen und die Werte unseres Grundgesetzes zu verteidigen.

Carola verbindet das Ganze auch noch mit einem Kompliment für unsere Stadt. „Elie Wiesel schrieb: ‚Es gibt keine illegalen Menschen.‘ Ich bin überzeugt, dass es auch keine illegale Liebe gibt. In Deiner Stadt muss man daran denken. Anscheinend sind die meisten Einwohner Neubrandenburgs auch offen und liberal genug, es stolz zu zeigen.“

Das denke ich auch, liebe Neubrandenburgerinnen und Neubrandenburger, verehrte Gäste.

Komme ich auf meine anfangs gestellte Frage zurück: Wie einig sind sich die Deutschen an ihrem Tag der Deutschen Einheit?

Ich bin fest überzeugt, dass eine große Mehrheit die Werte unseres Grundgesetzes trägt und stolz darauf ist, in dieser, unserer Bundesrepublik Deutschland zu leben. Doch dürfen wir dieses Deutschland eben nicht als selbstverständlich hinnehmen. Wir müssen auf dem Boden unseres Grundgesetzes immer wieder für unser Land und die Umstände, in denen wir leben, streiten. Gerade jetzt und gerade heute. Schon Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt wusste: „Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine.“

Doch ist es bei diesem Streiten wichtig, nicht den Kopf nostalgisch in die Vergangenheit zu wenden. Die alte Welt mit scheinbarer Stabilität hätte heute einen hohen Preis.

Die derzeitigen großen Probleme müssen ohne Frage gelöst werden. Und wir alle sind nach Jahren von Pandemie-Einschränkungen müde und geschafft und haben auf ein Ende der Dauerbelastung gehofft. Es ist nur allzu verständlich, dass die momentane Situation größte Sorgen bereitet. Wir brauchen gerade deshalb Lösungen, die auf der einen Seite Wohlstand und sozialen Frieden nicht gefährden; Lösungen die Unternehmerinnen und Unternehmer sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Sicherheit geben. Wir brauchen aber auf der anderen Seite die Lösungen, die unsere demokratischen Errungenschaften, unser gesellschaftliches Bild von Toleranz und Akzeptanz, von Offenheit und gesellschaftlichem Ausgleich sowie unsere Definition von Freiheit stärken. Lassen Sie uns bitte nie daran zweifeln, dass Freiheit ein hohes Gut ist. Genau die Freiheit, die es in vielen Ländern eben nicht gibt.

Wer auf die Straße geht, um genau dies zu erreichen, tut Gutes. Er zeigt, dass er sich mit demokratischen Mitteln um eine andere Politik bemüht. Wer die derzeitige angespannte Situation nutzt, um unsere Gesellschaft zu spalten – nämlich in diejenigen, die die momentane Lage alleinig zu verantworten haben und diejenigen, die dies schon immer gewusst haben – der sagt eben nicht die Wahrheit und erklärt eine vermeintlich einfache Welt. Kurz gesagt – er bietet Lösungen, die keine sind.

Wir sind im Moment alle gefordert, Schlüsse aus der Vergangenheit zu ziehen und vielleicht auch neue Wege zu beschreiten. Dabei ist es beinahe unerheblich, wo und wie wir dies tun. An unserem Tag der Deutschen Einheit ist es mir jedoch wichtig zu betonen, dass wir dies gemeinsam tun müssen. Wer spaltet, rettet Deutschland nicht, er riskiert es. Das heutige Deutschland ist das Demokratischste, das es in unserer Geschichte gab. Mich motiviert dies täglich bei meiner Arbeit. Mag der politische Alltag manchmal auch zäh und lähmend erscheinen, so ist es doch eine wunderbare Errungenschaft, dass wir in Deutschland und hier vor Ort in Neubrandenburg so gestalten können, wie es die durch den Souverän demokratisch legitimierte Legislative und Exekutive möchte und vor allem muss.

Es mag einfach klingen, aber wenn Sie sich hier vor Ort einbringen; Ihre Stadt, an welcher Stelle auch immer, mitgestalten, dann gestalten Sie weit mehr. Sie blicken sprichwörtlich über den eigenen Tellerrand hinaus, Sie engagieren sich für die Gemeinschaft, ja, für das Gemeinwohl, Sie arbeiten aktiv daran, dass Ihr Leben und das Leben anderer ein besseres wird.

Für dieses Engagement danke ich Ihnen vom Herzen, ob in der Nachbarschaft, in Vereinen, in der Politik, in Unternehmen, in Interessenverbänden, in Kunst und Kultur – hier überall liegt die Lösung für unsere Probleme. Hier in Ihrer Welt, in Ihrem Neubrandenburg liegt die Lösung.

Darum seien Sie stolz und feiern Sie zu Recht und vor allem mit Zuversicht Ihren Tag der Deutschen Einheit.

Neubrandenburg - 30.09.2022
Quelle: Pressestelle Vier-Tore-Stadt Neubrandenburg