Neubrandenburg gedenkt jüdischer Opfer


100 BürgerInnen gedachten heute am Synagogenplatz in Neubrandenburg der jüdischen Opfer von 1938. Schülerinnen des Projektes Zeitlupe inszenierten mit Gesang und Schauspiel die Dramatik, die sich um den 9. November 1938 zutrug. Oberbürgermeister Silvio Witt sprach stellvertretend für die Stadt und mahnte.: „Der Respekt vor den Ereignissen in der Deutschen Geschichte, das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus, das Ziel einer friedlichen Zukunft in Deutschland und Europa, das sind Eckpunkte unserer Gesellschaft. Wenn wir uns auf solche Eckpunkte besinnen, dann müssen wir uns nicht sorgen, dass Gewalt und Hass eines Tages wieder die Oberhand gewinnen“.

Rede des Oberbürgermeisters Silvio Witt anlässlich der Pogromnacht am 09.11.2017

Sehr geehrte Frau Stadtpräsidentin, sehr geehrte Stadtvertreterinnen und Stadtvertreter, liebe Neubrandenburgerinnen und Neubrandenburger, sehr geehrte Gäste, Berichte über fünf Schicksale von Frauen und Männern aus unserer Stadt haben wir heute hier gehört. Fünf Menschen jüdischen Glaubens, die durch den Wahn des Nationalsozialismus den Tod fanden. Es sind nur fünf Namen von mehr als sechs Millionen jüdischen Opfern jener Zeit. Diese Zahl ist so groß, dass sie kaum fassbar ist. Sie sich vorzustellen, hieße, sich die Städte Hamburg, Berlin und München mit einem Mal menschenleer vorzustellen.

Genau weil diese Zahl so unfassbar ist, ist es wichtig, einzelnen Opfern ihre Namen zurück zu geben. Zum Beispiel wie hier soeben über Anna Löwenhaupt zu sprechen, geboren in Neubrandenburg. Eine Tochter, Ehefrau, und Nachbarin. Eine Frau, die im Alter von 79 Jahren aus ihrem Zimmer in einem Altersheim gezerrt und deportiert wurde. Ein Bild, das das Grauen jener Zeit auch für uns noch immer greifbar macht.

Diesen jüdischen Neubrandenburgerinnen und Neubrandenburgern wieder einen Namen zu geben, ihre Geschichten zu recherchieren und zu erzählen, das bedeutet Arbeit. Aufwendige und langwierige Forschung in Archiven. Dieser Aufgabe haben sich Schülerinnen und Schüler unserer Stadt für den heutigen Gedenktag gewidmet. Unter fachkundiger Anleitung im Projekt Zeitlupe ist so ein Blick auf die Kapitel unserer Stadtgeschichte entstanden, die uns ganz sicher schmerzen.

Dabei sollen die Ergebnisse der Recherchen bald auch einem größeren Publikum über Neubrandenburg hinaus zugänglich gemacht werden. Die ersten Überlegungen dazu werden gerade angestellt. Für dieses Engagement möchte ich allen Beteiligten danken, vor allem der Wissenschaftlerin und Projektleiterin von Zeitlupe Dr. Constanze Jaiser und der Gesellschaft der Liebhaber des Theaters für die heutige Präsentation.

Das Interesse für Geschichte bei Schülerinnen und Schülern zu wecken, halte ich für eine der zentralen Aufgaben von Gedenkarbeit. Nur wer um die Vergangenheit weiß, kann ihre Lehren auf sein Leben anwenden und eine friedliche und gemeinsame Zukunft gestalten. Diese Überzeugung an junge Menschen weiter zu geben, muss unser Ziel sein. An diese jungen Menschen möchte ich aber auch einen anderen Appell richten.

Wir sollten an unsere demokratische Gesellschaft und ihre Stärke glauben. Dieser Optimismus ist mir wichtig.

Wir alle leben in einer Zeit, in der schnelle Urteile gefällt werden. Ein Satz im Internet verbreitet, ein Vorwurf in einem sozialen Netzwerk kann ausreichen, eine Welle von Wut, Hass und verbaler Gewalt auszulösen, die noch vor einigen Jahren kaum vorstellbar war. Genauso schnell wie Debatten aufflammen mit allen Folgen, genauso schnell ebben sie auch wieder ab, werden abgelöst von der nächsten Empörungswoge. Die Diskussionskultur hat sich in vielen Bereichen in eine Herrschaft derer gewandelt, die ihren Standpunkt am lautesten und rücksichtslosesten wiederholen. Dabei sind in unserer Gesellschaft auch Urteile und Meinungen zur deutschen Geschichte und speziell zum Nationalsozialismus laut und bei vielen Menschen sogar salonfähig geworden, die aus meiner Sicht nicht akzeptabel vor allem aber menschenverachtend sind. Worte wie „Bio-Deutsche„ und „Denkmal der Schande„ sind nicht nur Worte, sie zeigen welcher Geist in Deutschland Politik machen will.

Es ist unser aller Pflicht, dieser Entwicklung entgegen zu treten. Dies kann aber nur gelingen, wenn unsere Kraft aus festen Überzeugungen wächst. 1938, vor fast 80 Jahren haben die Nationalsozialisten die Schwäche der Demokratie und vor allem der Menschlichkeit genutzt und unvergleichliches Leid über Millionen von Menschen in Europa gebracht. Eine solche Schwäche der Demokratie und Menschlichkeit dürfen wir nie wieder zulassen. Ein Datum wie der heutige 9. November sollte uns Mahnung sein. Ich bin überzeugt, dass die friedlichen Kräfte unserer Gesellschaft stark genug dafür sind. Wir sind stark.

Die Verantwortung für ein friedliches Miteinander tragen wir alle, jeder einzelne muss dafür einstehen. Als 1938 hier in Neubrandenburg und in der ganzen Region, in Pasewalk und in Alt-Strelitz Synagogen angesteckt wurden, standen Mitbürger daneben, ohne zu helfen.

Auch das sollte für unser Zusammenleben eine Warnung sein. Wer wegsieht, wenn Menschen angegriffen, beleidigt oder ausgegrenzt werden, macht sich mitschuldig. Wir haben in der jüngeren Vergangenheit unseres Landes wieder erleben müssen, dass Häuser angesteckt wurden. Häuser, die Unterkünfte werden sollten. Dass so etwas in Deutschland geschieht, ist beschämend und entsetzlich. Aber ich bekräftige noch einmal: Ein gesellschaftliches Klima, das solche und andere Verbrechen toleriert oder fördert, das herrscht in unserem Land nicht. Wir haben aus der Vergangenheit gelernt. Trotzdem erinnert uns dieser 9. November seit fast 80 Jahren daran, dass wir stets wachsam sein müssen.

Wachsam und vor allem einig. Ostdeutsche gegen Westdeutsche, Frauen gegen Männer, Christen gegen Muslime, viele gesellschaftliche Diskussionen der vergangenen Monate haben Gegensätze und Konflikte zwischen Menschen betont. Ja, wir sollten diskutieren.

Aber miteinander und nicht über- und gegeneinander. Wir alle teilen Werte, und wir sollten uns dieser Gemeinsamkeit bewusst sein. Der Respekt vor den Ereignissen in der Deutschen Geschichte, das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus, das Ziel einer friedlichen Zukunft in Deutschland und Europa, das sind Eckpunkte unserer Gesellschaft. Wenn wir uns auf solche Eckpunkte besinnen, dann müssen wir uns nicht sorgen, dass Gewalt und Hass eines Tages wieder die Oberhand gewinnen.

Neubrandenburg - 09.11.2017
Text: Pressestelle Vier-Tore-Stadt Neubrandenburg am Tollensesee